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Gewährleistung der offenen Kommunikation an Hamburger Schulen

Mittwoch, 01.05.2024

Aus dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag, wie er in Art. 7 Abs. 1 GG und in § 2 Abs. 1 des Hamburgischen Schulgesetzes verankert ist, ergibt sich die Aufgabe, die notwendigen Voraussetzungen für das Gelingen dieses Auftrags sicherzustellen. Dazu gehört auch, die Bedingungen im Unterricht so auszugestalten, dass pädagogische Prozesse erfolgreich verlaufen können. Die Grundlage für beständige Bildungsprozesse im Unterricht wiederum ist der offene Austausch und die offene Kommunikation. Nur wenn sich Schüler:innen untereinander wie auch Schüler:innen und Lehrer:innen gegenseitig ins Gesicht schauen können, ist eine vollständige Kommunikation gewährleistet. Zu einem vollständigen Interaktionsprozess gehört auch die Möglichkeit, die Mimik und Gestik des Gegenübers lesen zu können, um dann auf das verbal wie nonverbal Geäußerte eingehen zu können. Erst dieser offene Unterricht mit einer symmetrischen Kommunikationsbeziehung zwischen den Beteiligten sichert den nachhaltigen Erfolg von Bildungsprozessen.

Zur Wahrung des staatlichen Bildungsauftrages ist demnach eine offene Kommunikation im Unterricht als Grundbedingung notwendig. Daraus erwächst nicht nur für Lehrkräfte, sondern auch für Schüler:innen eine Verpflichtung, dazu beizutragen, dass dieser Bildungsprozess in seinen grundlegenden Voraussetzungen nicht systematisch behindert wird. Eine systematische und dauerhafte Erschwernis kann sich jedoch durch Verhaltensweisen wie auch durch Kleidung ergeben.

Das Hamburgische Schulgesetz enthält bisher keine hinreichend bestimmte Norm, die die offene Kommunikation zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen gewährleistet. Mit diesem Antrag soll daher das Hamburgische Schulgesetz ergänzt werden, um Klarheit für die Schulgemeinschaften zu schaffen und eine Handlungsgrundlage sowie Rechtssicherheit für die Schulleitungen sicherzustellen. Die Änderung sieht vor, dass Schüler:innen in der Schule und bei Schulveranstaltungen jeder Art ihr Gesicht nicht verhüllen dürfen, da dies die offene Kommunikation in besonderer Weise erschwert. Schulleitungen können im Einzelfall begründete abweichende Entscheidungen treffen. Diese können im individuellen Gesundheitsschutz begründet sein oder sich aus anderen individuellen besonderen Härten ergeben, die das Verbot der Gesichtsverhüllung als unzumutbar erscheinen lassen. Zudem können schulpflichtige Schüler:innen auf dem Klageweg einen Härtefall geltend machen. Es wird berücksichtigt, dass die Verhüllung des Gesichts durch Gesetz oder Rechtsverordnung angeordnet werden kann, wie es beispielsweise während der Corona-Pandemie mit dem Tragen von Masken zum Infektionsschutz vorgeschrieben war. Ausnahmen aus schulischen Gründen, wie das Tragen von Schutzmasken im Chemieunterricht, sind zudem möglich.

Die Einführung der Neuregelung soll eng begleitet werden und in Konfliktfällen an individuellen Lösungen gearbeitet werden. Die Neuregelung soll nicht zu einer sozialen Isolation oder Separation einzelner Schüler:innen führen. Dafür ist es wichtig, dass zuständige Ämter und Beratungsangebote in den Schulen bekannt sind und die Zusammenarbeit gefördert wird.

 

Die Bürgerschaft möge beschließen:

 

Gesetz

zur Änderung des Hamburgischen Schulgesetzes

 

Vom ...

In § 28 Absatz 2 des Hamburgischen Schulgesetzes vom 16. April 1997 (HmbGVBl. S. 97), zuletzt geändert am 19. März 2024 (HambGVBI. S. 77), werden folgende Sätze angefügt:

 

„Sie dürfen in der Schule und bei Schulveranstaltungen jeder Art ihr Gesicht nicht verhüllen, es sei denn, dies ist zur Erfüllung einer durch Gesetz oder Rechtsverordnung angeordneten Rechtspflicht erforderlich. Ausgenommen davon ist das Tragen einer medizinischen Maske bei Vorliegen einer medizinischen Indikation. Die Schulleitung kann aus schulischen oder gesundheitlichen Gründen oder bei schulpflichtigen Schülerinnen und Schülern zur Vermeidung einer unbilligen Härte im Einzelfall Ausnahmen zulassen.

 

Begründung:

 

Allgemein

Die Änderung verankert ein Verbot der Gesichtsverhüllung auf formal-gesetzlicher Ebene und genügt damit Vorgaben aus dem Beschluss des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 29.01.2020 (Az. 1 Bs 6/20). Hiernach bedarf es für die Anordnung an eine Schülerin, die aus religiösen Gründen einen Niqab oder eine vergleichbare Gesichtsverhüllung trägt, im Unterricht ihr Gesicht zu zeigen, einer klaren gesetzlichen Regelung. Ohne eine solche Regelung besteht auch keine rechtliche Grundlage, von den Sorgeberechtigten der Schülerin zu verlangen, dass sie auf diese einwirken, im Unterricht ihr Gesicht zu zeigen. Eine solche gesetzliche Grundlage wird durch Ergänzung von § 28 HmbSG, der allgemein die Rechte und Pflichten aus dem Schulverhältnis regelt, nun geschaffen.

§ 28 HmbSG stellt sicher, dass die Schule ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag angemessen und effizient nachkommen kann. Erziehung und Bildung beruhen auf einer offenen Kommunikation zwischen Lehrkraft und Schüler:in und setzen diese voraus. Die Wahrnehmung der Mimik als einem wesentlichen Teil des responsiven Verhaltens ist hierbei von einer solch zentralen Bedeutung, dass auf sie nur aus zwingenden Gründen verzichtet werden kann. Dies gilt für die Vermittlung von Bildungsinhalten im Unterricht i.e.S. ebenso wie für erzieherische Inhalte, die auch während der Schulpausen, auf Schulfahrten oder in den Ganztagsangeboten vermittelt werden (müssen). Zwar verhindert die Verhüllung des Gesichts nicht sämtliche Kommunikation vollständig, da die Augen zum Teil zu sehen sind und verbale Äußerungen und Gesten wie Kopfschütteln oder Armbewegungen möglich sind. Doch ist die gegenseitige Wahrnehmung von Gesichtszügen und -ausdruck das Kernstück einer offenen und gleichberechtigten Kommunikation. Eine solche ist nicht nur Voraussetzung für einen gelingenden Unterricht mit aktiver Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden, sondern auch unerlässlich, um die Aufgabe der Schule zu erfüllen, die Fähigkeiten und die Bereitschaft der Schüler:innen zu stärken sowie ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Achtung und Toleranz zu gestalten.

Durch diese Regelung werden die Grundrechtspositionen der Schüler:innen und der ebenfalls grundrechtlich verankerte Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates in einen angemessenen Ausgleich gebracht. Auf Seiten der Schüler:innen bzw. ihrer Sorgeberechtigten sind neben der Religions- und Glaubensfreiheit (Artikel 4 Absatz 1 und 2 Grundgesetz (GG)) das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Artikel 2 Absatz 1 i.V.m. Artikel 1 Absatz 1 GG sowie das elterliche Erziehungsrecht (Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 GG), das Diskriminierungsverbot (Artikel 3 Absatz 2 und 3 Satz 1 GG) sowie das Grundrecht auf schulische Bildung (Artikel 2 Absatz 1 GG i.V.m. Artikel 7 Absatz 1 GG) betroffen. Den genannten Grundrechten der Schüler:innen und der Sorgeberechtigten steht der Erziehungs- und Bildungsauftrag des Staates aus Artikel 7 Absatz 1 GG gegenüber. Dieser ist ausgeformt durch den gesetzlich normierten Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule und die Schulpflicht der Schüler:innen und korrespondiert wiederum mit dem verfassungsrechtlich garantierten Recht junger Menschen auf schulische Bildung aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 7 Absatz 1 GG (dazu BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021, 1 BvR 971/21). Der Bildungs- und Erziehungsauftrag gewährt dem Staat das Recht, sich für die Unterrichtsmethode der offenen Kommunikation zu entscheiden, bei der Lernende untereinander in der Lerngruppe aber auch mit der Lehrperson kommunizieren und diese mit den Lernenden offen kommuniziert. Da bei einer gesichtsverhüllenden Verschleierung einer Schülerin eine nonverbale Kommunikation zwar nicht vollständig, aber im Wesentlichen unterbunden wird, ist die offene Kommunikation im Rahmen der Unterrichtsgestaltung nicht möglich und läuft folglich dem fachlichen Konzept zuwider.

Die Pflicht zur Teilnahme an schulischen Veranstaltungen ist nicht allein dadurch erfüllt, dass Schüler:innen ihre Rolle auf eine rein physische Anwesenheit reduzieren. Sie müssen mit ihrem Erscheinen zumindest auch die Möglichkeit einer offenen Kommunikation verbinden.

Bei Zuwiderhandlungen gegen das Verbot können Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen nach § 49 HmbSG ergriffen werden oder ein Bußgeld nach § 113 HmbSG erlassen werden. Dabei ist zu unterscheiden, ob es sich um eine schulpflichtige Schülerin bzw. einen schulpflichtigen Schüler handelt oder ob keine Schulpflicht mehr besteht. Bei schulpflichtigen Personen dürften als angemessene Ordnungsmaßnahmen wohl nur der schriftliche Verweis sowie der Ausschluss vom Unterricht für bis zu 10 Unterrichtstage oder von einer Schulfahrt in Betracht kommen. Bei nicht mehr schulpflichtigen Schüler:innen käme dagegen bei fortdauerndem Verstoß gegen das Verhüllungsverbot auch die Ordnungsmaßnahme der Entlassung aus der allgemeinbildenden Schule und aus den Bildungsgängen der beruflichen Schulen in Betracht. Daneben kommt die Verhängung eines Bußgeldes in Betracht, da ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich gegen die Bestimmungen über die Schulbesuchspflicht gemäß § 28 Absatz 2 Hamburgisches Schulgesetz verstößt. Ein Bußgeld kann unter Umständen auch gegen Sorgeberechtigte verhängt werden.

Bei einer Kollision zwischen der Glaubensfreiheit der Schüler:innen beziehungsweise dem religiösem Erziehungsrecht der Eltern und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsrecht sind gewisse Beeinträchtigungen der Glaubensfreiheit zunächst hinzunehmen. Nur wenn die Beeinträchtigung den Umständen nach eine „besonders gravierende Intensität“ aufweist, kann es erforderlich sein, die religiöse Position in eine individuelle weitergehende Abwägung gegen das staatliche Bestimmungsrecht zu bringen. Daher ist für schulpflichtige Schüler:innen die Möglichkeit vorgesehen, in ganz besonders gelagerten Härtefällen eine Ausnahme vom Verbot der Gesichtsverhüllung zu machen. Dabei obliegt die Darlegung und Glaubhaftmachung dieser besonderen Härtefallsituation, die sich von anderen vergleichbaren Konstellationen abhebt, denjenigen, die sich auf ihre Grundrechtsposition berufen. Die Belastungen und Gewissenskonflikte, die mit dem gesetzlich verlangten Abweichen von der durch die eigene religiöse Überzeugung als zwingend empfundenen Gesichtsverhüllung regelmäßig einhergehen dürften, stellen dabei keine Härte der hier gemeinten außergewöhnlichen Art da. Hinzukommen müssen ganz besondere Eigenheiten des Einzelfalls, die beispielweise die betroffene Schülerin in Gesundheit oder Leben gefährdet erscheinen lassen. Durch die Härteklausel ist diese grundrechtlich gebotene Abwägung im Einzelfall für schulpflichtige Schüler:innen im Gesetz vorgesehen. Für nicht mehr schulpflichtige Schüler:innen ergibt sich allerdings anders als für schulpflichtige Personen die Alternative, den Schulbesuch zu beenden, wenn der mit dem Schulbesuch verbundene Verzicht auf die Gesichtsverhüllung subjektiv als unzumutbar erachtet wird. Regelmäßig dürfte zudem der angestrebte Bildungserfolg auch anders als durch den Besuch einer Präsenzschule erreicht werden. Für diese Schüler:innen ist eine besondere Härtefallklausel damit auch unter grundrechtlichen Aspekten nicht geboten.

 

Einzelbegründung

Der Begriff der Gesichtsverhüllung im Sinne der Vorschrift entspricht im Wesentlichen dem in § 34 Absatz 2 Satz 6 des Beamtenstatusgesetzes. Er bezieht sich auf das vollständige Bedecken des Gesichts oder ein Bedecken wesentlicher Gesichtspartien von der unteren Kinnkante bis zum unteren Rand der Stirn. Kleidung, die diese Partien unverhüllt lässt, verstößt nicht gegen das Verbot.

Das Verbot gilt nicht allein im Unterricht, sondern auch in sonstigen schulischen Veranstaltungen, in Pausen, auf Schulfahrten oder bei der Inanspruchnahme von Ganztagsangeboten, einschließlich der Teilnahme an der ganztägigen Bildung und Betreuung gemäß § 13 HmbSG. Es richtet sich allein an Schüler:innen. Andere Personen der Schulgemeinschaft sind nicht erfasst. Für Beschäftigte gelten insoweit allerdings eigene dienst- bzw. arbeitsrechtliche Vorgaben.

Ausnahmen von dem Verbot bestehen zum einen, soweit das Tragen einer Maske durch Gesetz oder Rechtsverordnung angeordnet ist. In Betracht kommen hier insbesondere Maßnahmen des Infektionsschutzrechts oder auch allgemein des Gesundheitsschutzes. Satz 2 der Regelung ermöglicht der Schulleitung zum einen, im Einzelfall Ausnahmen aus schulischen Gründen zu machen, etwa wenn im Chemieunterricht das Tragen einer Maske erforderlich ist, wenn im Fach Theater oder bei sonstigen schulischen Aufführungen die gespielte Rolle eine Bedeckung des Gesichts erfordert oder wenn es bei schulischen Karnevalsfeiern zu einer Verkleidung mit Gesichtsbedeckung kommt. Zum anderen sind Ausnahmen aus gesundheitlichen Gründen möglich. Individuelle medizinische Gründe können auch vorliegen, wenn das Tragen einer medizinischen Maske zum Schutz eines Menschen aus dem nahen Umfeld dient, etwa weil Eltern, Geschwister, andere Familienmitglieder im nahen Umfeld vulnerabel sind, bspw. aufgrund schwerer oder chronischer Erkrankungen, Chemotherapie oder ähnlichem. Daneben ist bei schulpflichtigen Schüler:innen auch dann eine Ausnahme möglich, wenn sonstige ganz besondere Umstände des Einzelfalls das Verbot der Gesichtsverhüllung als schlichtweg unzumutbar erschienen lassen.

 

Der Senat wird ersucht,

1. im engen Austausch mit den Schulen die Gesetzesänderung zu begleiten, für die Anwendung der Neuregelung eine Arbeitshilfe zu entwickeln, in Konfliktfällen zu unterstützen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass außerschulische Beratungsmöglichkeiten in den Schulen bekannt sind und es Leitlinien zu deren Einbeziehung gibt.

2. der Bürgerschaft bis zum 30.11.2024 zu berichten.

 

 

sowie
  • Dominik Lorenzen
  • Maryam Blumenthal
  • Filiz Demirel
  • Olaf Duge
  • René Gögge
  • Dr. Adrian Hector
  • Sina Imhof
  • Sina Aylin Koriath
  • Farid Müller
  • Dennis Paustian-Döscher
  • Charlotte Stoffel (GRÜNE) und Fraktion